Amanda - Wahre Magie

Auf ihrer Flucht durch Dahrbens Wälder gewinnen Amanda und Jonah das Vertrauen und die Hilfe eines versteckten Bergvolkes. Doch Verfolger sind ihnen bereits dicht auf den Fersen. Längst ist der zweifelhafte Zaubererrat nicht mehr der einzige, der ein besonderes Interesse an Amanda hegt. Auch Riesenkatzen und Vogelmenschen wollen sie für sich gewinnen, denn die junge Magierin soll eine Aufgabe erfüllen.

Leseprobe:

 

1. Kapitel – Auf der Reise

 

Die Worte waren ihr immer noch im Gedächtnis. Seit Tagen schon. Kein Wunder, sie hatten lange genug an einer präzisen und knappen Wortwahl gefeilt.

 

 Hallo Haeveij und Onkel Amatan.

Wir haben es geschafft, wir sind entkommen. Allerdings ist uns Noc-tuadar bestimmt schon auf den Fersen. Im Moment kämpfen wir uns durch die Wälder im Süden Dahrbens. In wenigen Tagen werden wir die südlichen Felsketten erreichen. Jonah meint, wir könnten Takar zu Fuß in drei Wochen erreichen.

Wir sind beide wohlauf,

Grüße, Amanda und Jonah

 

Nun war diese Nachricht aber wie ausradiert aus dem kleinen Buch. Jedoch waren auch alle anderen Seiten weiß und leer. Da konnte Amanda noch so oft blättern. Ihre Botschaft blieb also unbeantwortet.

Ein Rascheln! Abrupt schlug sie das Buch zu und legte es beiseite. Sie fuhr herum, nahm ihr Schwert in die Hand. Sie sollte es endlich mal schärfen, denn selbst ein Brotlaib stellte eine Herausforderung für das Ding dar. Ihr Blick fiel auf das wackelnde Gebüsch. Eine Maus huschte darunter hervor. Sie atmete auf, wusste nicht, was sie bei einem richtigen Räuber getan hätte. Angespannt setzte sie sich auf einen Baumstamm und prüfte zum zehnten Mal, dass wirklich noch alle Sachen da waren: ihre Tasche mit Kleidung, Kohlestift, Pergament und natürlich Amatans Zauberbuch. Daneben Jonahs Ruck-sack mit Messern, Seil, einer Landkarte sowie allerlei anderem Krimskrams, den er unbedingt mitschleppen wollte. Auch das kleine leere Buch packte sie wieder dort hinein. Zu essen hatten sie nichts mehr. Nur noch zwei leere Saftflaschen mit Korkverschluss aus der Schule, die sie nun für frisches Wasser nutzten.

Wie lange war er jetzt schon fort? Seit heute Morgen. In-zwischen war Mittag. Sie hatte Hunger! Seit einem Tag hatten sie nichts mehr gegessen. Sobald ihr Geld verbraucht war, hatte sich Jonah freiwillig zum Essensdienst gemeldet. Das bedeutete, dass er in den nahe liegenden Städten herum-streunte und hier und da ein paar Äpfel und andere Kleinig-keiten einsteckte. Die ersten Male war Amanda dabei gewesen. Er war wirklich geschickt, schien nichts verlernt zu haben seit seiner Zeit als Straßenkind. Später stellten sie fest, dass zwei Personen zu auffällig waren, und Jonah ging allein auf Beute-zug. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie beim letzten Diebstahl zuerst von zwei eifrigen Metzgerburschen verfolgt worden waren, sich in einem Hühnerstall verstecken mussten, die Hühner auf Jonahs Augen einhackten, weil er die Eier stibitzen wollte, woraufhin sie beide zu guter Letzt Schlamm beschmiert und gefiedert der Bäuerin gegenüberstanden, die sie schimpfend vom Hof jagte.

»Wisst ihr Gauner eigentlich, was so ein Hof für uns Leute bedeutet?«, hatte sie ihnen hinterher geschrien, als Amanda und Jonah davonjagten. »Wir vom Dorf haben nichts zu be-wirtschaften abgesehen von diesen kleinen Gehöften, seit der Rat die Ländereien in den Feenwäldern beansprucht. Jetzt schleicht euch gefälligst davon und lasst uns unser Eigen.«

Irgendetwas hatte danach dumpf auf dem Boden aufge-schlagen. Amanda vermutete, dass es ein Pantoffel der zorni-gen Frau gewesen war.

Nach dieser Begegnung hatten Amanda und Jonah eine lange Debatte geführt, ob es in Ordnung war, weiterhin als Diebe durch die Lande zu ziehen.

»Wir haben keine andere Wahl«, hatte Jonah letztlich argu-mentiert, »oder willst du verhungern, bevor wir am Ziel an-kommen?«

»Aber schau: Diese Leute aus den Dörfern haben kaum Land, wenige Felder und können sich geradeso selbst er-nähren. Sie sind auf die Märkte der Städte angewiesen, um dort mit ihren Waren gute Geschäfte zu machen.«

»Wir klauen nur, was wir unbedingt brauchen, Amanda. Das ist nicht viel und bringt die Leute nicht um. Es ist die Sorge um sich selbst, die sie ängstigt.«

»Und«, fügte Amanda dem hinzu, »dass der Rat noch mehr Land beansprucht und diesen Leuten irgendwann gar nichts Eigenes bleibt.«

»Das kann der Rat machen. Aber er wird nicht seine eigene Bevölkerung in den Wahnsinn treiben. Sie würde protestieren, wenn man versuchte, sie einzuschränken.«

»Außer, es geschähe zu ihrem eigenen Wohl. Nach dem Krieg hat der Rat sich selbst zur Regierung ernannt. Er hat Grenzen gezogen, statt Einigung zwischen den Völkern zu schaffen, er kreist.«

Jonah hatte seufzend alle Diskussion aufgegeben und fest-gelegt: »Aber Essen brauche ich trotzdem. Ich werde allein gehen, vielleicht bring ich dir aus Nächstenliebe was mit.«

Wo blieb er jetzt nur? Sie war immer wahnsinnig nervös, wenn sie allein die Verantwortung für ihre Sachen trug. Auf dem Weg waren sie bisher zum Glück von Räubern und an-deren üblen Leuten verschont geblieben, was bestimmt ein Omen dafür war, dass sie bald eine böse Überraschung erleben müssten.

Sie vernahm hastige Schritte auf dem Waldboden, Zweige knackten, keuchender Atem. Jonah tauchte hinter ihr zwischen zwei Eichen auf. »Amanda, beeil dich. Wir müssen schnellst-möglich weg von hier.« Er setzte den Rucksack auf und warf ihr seinen zur Hälfte gefüllten Proviantbeutel zu. Sie stopfte ihn mit Mühe in ihre Umhängetasche. »Was ist los?«, fragte sie. »Bist du erwischt worden?«

»Vielleicht«, murmelte er. »Erklär ich dir später. Komm!«

Sie rannten ohne ersichtliches Ziel. Jedenfalls kam es Aman-da so vor. Jonah wusste hoffentlich, was er tat. Den Waldweg hatten sie gestern Abend verlassen, um im Dickicht einen geschützten Schlafplatz zu finden. Zumindest war er sicher vor Räubern. Ein Feuer zum Schutz vor Tieren konnten sie nicht machen, da sie dann von möglichen Verfolgern leichter ent-deckt würden. Deshalb musste immer einer Wache halten.

Nun aber liefen sie so schnell sie konnten vor etwas davon, von dem Amanda nicht einmal wusste, ob es sie überhaupt jagte. Das Dorf, in dem Jonah heute auf Beutezug gewesen war, lag etwa eine halbe Stunde hinter ihnen. Das nächste sollte laut Karte etwas weniger als einen Tag zu Fuß vor ihnen liegen. Also zu weit, um dort zwischen Menschen und Wesen Schutz zu suchen.

»Warte einen Moment«, keuchte Jonah. Er ging einige Schritte nach rechts, in die Richtung, in welcher der Waldweg liegen musste. Achtlos stapfte er durchs Gebüsch, brach hier und dort ein paar Zweige ab. Minuten verstrichen, dann kam er zurück. »Das sollte sie auf einen falschen Weg führen, wenn sie uns folgen.«

Geschickt gemacht, gestand sich Amanda. Ohne Jonah wäre sie schon längst aufgeschmissen. Er brachte die Essensvorräte heran und wusste, wie man in den weiten Landen überlebte. Sie kannte lediglich ein paar gute Heilrezepte, die dank Jonahs Kenntnissen und Kampftalent jedoch kaum Anwendung fin-den würden.

Sie gingen weiter. Jonah suchte den kompliziertesten Pfad heraus. Sie kletterten mit ihrem Gepäck über und unter um-gefallene Baumstämme, erklommen Felsen, schlugen sich Wege durch Dornengestrüpp. Spätestens da würde ihren Ver-folgern auffallen, dass sich jemand mit Dolch und Messern durchgekämpft hatte.

»So weit werden die Alten sicher nicht kommen«, beharrte Jonah und ließ sich auf ein Mooskissen fallen. »Hier dürften wir erst einmal sicher sein.«

Sie schauten sich um. Um sie herum gab es nur Bäume und Gestrüpp. Einige Schritte neben ihnen wuchs das Dickicht an einem Felshang in die Tiefe. Dort waren die beiden irgend-wann heute Nachmittag hinaufgeklettert. Vor ihnen lag ein breiter Pfad, der sich zwischen Dornen und Ranken gen Nor-den schlängelte.

Amanda setzte sich neben Jonah. »Wie viele von ihnen hast du gesehen?«

»Einen habe ich beim Fischhändler entdeckt, diesen Frosch. Ran, heißt der. Dann haben da noch zwei andere Grauhaarige ein bisschen zu auffällig den Himmel angestarrt, als dass man sie für unschuldige Bürger hätte halten können. Könnte die Libellenfrau gewesen sein, Libelia und dieser Hirsch, Cerv.«

»Also verfügt der Rat auch über Agenten, die nach uns suchen. Wie sollen wir das schaffen? Die Mitglieder des Rates können sich sogar in Tiere verwandeln, die können doch über-all sein. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, und sie sind uns jetzt schon auf den Fersen.«

Jonah schaute nachdenklich in die Ferne. »Ich würde jetzt normalerweise versuchen, dich aufzumuntern, aber du hast recht.«

Wo sollte das hinführen, wenn sogar Jonah keinen Rat wusste? Seit fast einer Woche waren sie unterwegs, hatten ängstlich jeden Baum umrundet, ob nicht ein Späher dahinter stünde. Jetzt waren sie also entdeckt worden.

»Weißt du überhaupt, ob sie dich gesehen haben?«, fragte Amanda.

Er schüttelte den Kopf. »Nicht sicher. Aber ich gehe davon aus. Ich habe mich in den Massen versteckt und bin durch alle möglichen Gassen gerannt. Ich hoffe, sie damit abgehängt zu haben – wenn sie mir gefolgt sind. Die drei, die ich gesehen habe, sahen nicht so wahnsinnig jung aus. Deshalb, denke ich, werden sie große Probleme haben, uns hierher zu folgen. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Ich glaube, noch einmal lassen sie sich so eine Gelegenheit nicht entgehen.«

»Das heißt, von nun an Abstand halten von Wegen und ab durch Bäume, Büsche und Gestrüpp.«

Er nickte. »Ich sehe, du verstehst es allmählich.«

»Man gewöhnt sich langsam an die Freiheit als Kriminelle. Es übt einen gewissen Reiz aus.«

»Ja, solange, bis man uns schnappt. Dann war’s das mit dem Reiz der Freiheit. Der Beginn der Gefangenschaft. Bei den meisten nennt sich das Schule.«

Amanda kicherte, obwohl sie wusste, dass Jonahs Miene hart blieb bei der Vorstellung. Er hatte das alles schon einmal erlebt. Diesmal wollte er es besser machen. Er hatte Erfah-rungen gesammelt, hatte trainiert und immer wieder geübt. Diesmal wollte er schlauer sein als die anderen. Lange und intensive Arbeit steckte hinter ihrem Plan und im Wesent-lichen war es Jonah, der dafür geackert hatte.

»Gib mir mal die Karte«, bat sie ihn, der sogleich zu kramen anfing.

»Hm, auch eine gute Idee«, sagte er und hielt zwei Brötchen hoch. »Bist du hungrig?«

Sie lauschte kurz auf ihren Bauch. Ja! Er hatte seit gestern Abend nichts zu tun bekommen. »Unbedingt«, sagte sie, wäh-rend sie die Pergamentkarte und eins der Brötchen entgegen-nahm. Vorsichtig klappte sie das zerfledderte Papier auf und beschwerte die Ecken mit moosbewachsenen Steinen. »Also, wir müssten uns etwa hier befinden.« Sie kreiste mit dem Fin-ger einen Bereich im unteren Teil der Karte, einige Zentimeter oberhalb des Punktes Schule, ein. »Bis nach Takar sind es noch ganze zwei Wochen, wenn alles gut geht.«

»Träum weiter«, lachte Jonah und biss wie ausgehungert in sein Brötchen. »Daf kannft du vergeffen.«

»Das weiß ich doch. Kau hinter, bevor du sprichst. Wir soll-ten einen Umweg machen. Wahrscheinlich wissen die längst, wo wir hinwollen, und lauern in sämtlichen Städten auf dem Weg. In den Siedlungen und Städten dürfen wir uns auf keinen Fall mehr sehen lassen. Die bekannten Wege sollten wir auch meiden. Noctuadar wird überall, wo er uns vermutet, Posten aufgestellt haben, die Ausschau halten.«

Amanda schwieg und widmete sich zunächst ihrem Brötchen. Vielleicht konnte sie sich dann besser konzentrieren.

»Und wenn wir einfach ganz plötzlich im Wald verschwin-den? Wir machen einen Bogen um jedes Dorf. Ich könnte etwas jagen und du kennst dich doch mit Grünzeug aus. Damit dürften wir zwei Wochen überleben.«

»Aber woran sollen wir uns orientieren? Wir könnten ja nicht einmal jemanden fragen.«

»Sonne und Moos«, meinte er ganz einfach, schaute jedoch gebannt auf die Karte. »Bis zu dem Fluss nahe Takar können wir der Felsenkette folgen, auf der wir uns gerade befinden. Sie verläuft abseits von allen Wegen. Wer weiß, vielleicht finden wir geheime Gänge darin. Damit würde das schneller gehen.«

»Ist das dein Ernst?« Amanda rollte die Augen.

Jonah grinste. »Wenn du wüsstest, was es alles gibt …«

»Ich behaupte ja nicht, dass es unmöglich ist. Nur sehr ab-wegig«, sagte sie zu Jonah, der daraufhin noch breiter grinste. »Na gut, ich hätte auch nie geglaubt, dass es in einem kleinen Bach geheime Gänge geben könnte, in denen Leute leben.«

Er zog die Brauen hoch. »Wie meinst du das?«

Als wäre es das Normalste überhaupt antwortete sie: »Zu Hause in Takar war ich mit einem Wassermädchen befreundet. Die hat mich mal in ihr Heim eingeladen.«

»Das ist ja ein Ding. Du warst in einem Haus im Wasser? Darüber musst du mir bei Gelegenheit mehr erzählen. Aber machen wir weiter im aktuellen Thema. Ich bin zwar eigentlich gegen ein bestimmtes Muster in der Vorgehensweise, doch haben wir wohl keine Wahl. Wir folgen zunächst stur dem Verlauf dieser Felsen. Wenn wir das geschafft haben und an dem Fluss angekommen sind, sehen wir weiter.«

Amanda beschlich noch ein ganz anderes Gefühl. »Was ist, wenn Amatan bereits informiert ist?«, fragte sie Jonah. Schon öfter hatte sie sich mit diesem Gedanken befasst, jedoch war sie ihm nie bis zum Ende gefolgt. »Sicher wird ein Dutzend Agenten vor seinem Haus auf und ab laufen. Oder im Haus. Wer weiß, was die ihm erzählt haben. Oder wenn sie ihn aus dem Weg geräumt haben?«

»Jetzt bleib mal ganz ruhig.« Jonah hob beschwichtigend die Hände. »Erst einmal müssen wir dort sicher ankommen.«

»Das ist nicht gerade ermutigend.«

Er legte ihr entschuldigend einen Arm um die Schultern. »Du machst dir viel zu viele Gedanken«, sagte er lächelnd.

Einsichtig und vielleicht auch ein bisschen erschöpft ließ sie ihren Kopf an seine Schulter sinken. »Zu Recht.«

Einige Stunden, die sich wie wenige Minuten anfühlten, saßen sie so beieinander, beobachteten, wie sich der Himmel über ihnen in ein goldenes Tuch verwandelte, das herabsank und sie sanft einhüllte. Von weitem war ein melodisches Sum-men zu vernehmen. Klarer und süßer als die Stimme eines Menschen, fast zu schade, um nur einem Vogel zu gehören.

»Hörst du die Sänger der Nacht?«, wisperte Jonah.

Sie blickte ihn begriffsstutzig an. »Du meinst die Vögel?«

»Nein, die Naturgeister in den Bäumen, die nur nachts auf-wachen. Es gibt eine Sage von einem Hirsch, einer Ameise und der Geistern der Nacht. Sag bloß, du kennst sie nicht.«

Hingerissen lauschte Amanda. Wie Flöten klangen leise Lie-der durch den ins Abendlicht getauchten Wald. Gruselig und schön zugleich. »Erzählst du sie mir?«

Er überlegte kurz. »Gern, aber wehe du lachst.«

Schon bei dieser Bemerkung konnte Amanda ein Grinsen nicht unterdrücken. »Ich versuch’s«, erklärte sie im vollen Bewusstsein ihres nicht vorhandenen schauspielerischen Ta-lentes.

»Eine Ameise stand in der Abenddämmerung vor einem gro-ßen Fluss. Seine Strömung war gewaltig. Zu ihr trat ein Hirsch. Er bot an, sie zu hinüber zu tragen. Doch die Ameise lehnte ab, da der Hirsch bekannt war als Begleiter der Toten. Sie meinte, er wolle sie in den Tod führen. Der Hirsch argumen-tierte, er wolle ihr nur helfen, damit sie vor Einbruch der Dun-kelheit am andern Ufer wäre. Die Ameise glaubte ihm nicht. Am Ende ließ sie sich jedoch überreden und setzte sich in das Gehörn des großen Tieres. In der Mitte des Flusses hielt der Hirsch an und tauchte ohne Vorwarnung seinen Kopf ins Wasser, sodass die Ameise hinein fiel und von der Strömung fortgetragen wurde.«

Und?, fragte sich Amanda, als Jonah nicht mehr weitersprach. Mit neugierigen Augen erwartete sie eine positive Wendung der Geschichte.

»Die kleine Ameise ertrank natürlich in den Wellen, und der Hirsch setzte seinen Weg fort. Die Geister der Nacht waren aufgewacht und hatten das alles beobachtet. Tief berührt von der Szene huschten sie durch den Wald und verkündeten das Unglück. Seitdem singen sie jeden Abend zur Dämmerung für die Toten des vergangenen Tages.«

»Warum hat der Hirsch das gemacht?«, fragte Amanda.

»Er ist der Begleiter der Toten. Er weiß, wenn die Zeit reif ist und hilft den Seelen einen leichten Übergang zu finden.«

»Aber es war eine gemeine Lüge, wenn er behauptete, er tue der Ameise nichts.«

»Nein, war es nicht. Er sagte, er wolle ihr helfen. Das hat er getan. Sie hat nur etwas anderes erwartet. Eigene Schuld, würde ich sagen. Aber sie hatte die Aufgaben in ihrem Leben erfüllt. Der Hirsch erledigt die seinen. So ist das Leben.«

Als hätte er Angst, dass auch sie untergehen könnte, zog er sie an sich und streichelte ihr über den Arm. Es war wie ein Moment der Stille vor dem großen Sturm. Nur die Lieder der Geister klangen durch den Wald.

Amanda schauerte. Unheimlich waren sie trotz ihrer harmo-nischen Melodie.

»Es sind gute Geister«, beruhigte Jonah. »Sie wurden von einer Magierin namens Salamandra erschaffen, um über die Wesen in dunkler Nacht zu wachen. Sie können uns nicht berühren. Man kann sie nicht mal sehen, so schnell verschwin-den sie in ihren Bäumen.«

Sie waren also ähnlich motiviert wie die Feen, die Amanda damals gerettet hatten. Die Natur war auf ihrer Seite. Oder auf der des Hirsches? In dieser Geschichte tauchte wieder mal die schwer zu beantwortende Frage nach Gut und Böse auf. Wo lag die Grenze?

»Warum hätte ich lachen sollen?«, fragte sie in die Ruhe hinein.

Er warf ihr einen verwirrten Blick zu. »Wie …«

»Du sagtest doch, ich solle nicht lachen.«

»Ach so. Ich dachte, du hältst mich vielleicht für bescheuert, wenn ich an so etwas glaube.«

»Glaubst du denn daran?« Sie fragte, doch glaubte sie nicht, dass er ihr antworten würde. Jonah sprach nicht gern über Gefühle. In dieser Hinsicht besaßen sie eine Gemeinsamkeit. Amanda würde manche ihrer Gefühle ebenfalls lieber ver-stecken, wenn sie könnte.

»Man weiß nicht genau, ob das wirklich passiert ist. Nach so vielen Jahren ist das kaum nachzuvollziehen. Manche Leute sagen, es sind Vögel, die da singen und sich tagsüber in Baum-höhlen verstecken. Aber man hat sie bisher wohl ebenso selten gesehen wie die Geister.«

Er blinzelte dem letzten Sonnenstrahl hinterher, der hinter schwarz gewordenen Bäumen verschwand. Die Geister sangen ihre Melodien nun umso intensiver. Er küsste ihr Haar, das jetzt wie Feuer glänzte. »Legst du dich hin? Ich halte Wache.«

»Lass nur, ich bin dran«, sagte sie.

»Schlaf du lieber. Wir müssen jetzt immer hellwach sein.«

Sie stöhnte. Gegen Jonah zu argumentieren, war aussichtslos. »Du aber auch. Ich wecke dich, wenn ich müde bin. Außerdem hast du heute schon genug geleistet.«

»Kommt nicht infrage. Du brauchst deinen Schlaf.«

Sie setzte sich mit verschränkten Armen vor ihn. »Gut, dann bleiben wir beide wach.«

Er rollte die Augen. »Willst du es darauf ankommen lassen?«

Sie schwieg. Wenn nötig, sollte es so sein.

»Na gut«, sagte er. »Aber weck mich rechtzeitig, ja?« Er holte die Decken aus dem Rucksack und machte es sich, so gut es ging, zwischen Steinen und Gras bequem.

»Natürlich. Schlaf gut.« Sie küsste ihn zur guten Nacht auf den Mund. Seine Lippen schmeckten salzig von der Anstren-gung des Tages.

»Mach ich, Mami«, murmelte er und mummelte sich in seine Decke.

Amanda lauschte den Geistern der Nacht und versuchte zu verstehen, was sie sangen. Trauerten sie? Oder es war einfach nur eine alte Sage, die sich irgendein alter Gnom ausgedacht hatte, um seine Kinder ruhig zu stellen?

 

 

 

2. Kapitel – Auf Freundschaft!

 

Die Sonne fiel durch das hoch erhobene Blät-terwerk. Die Vögel zwitscherten ihre Begrü-ßungsmelodien in den Morgen. Auf den Gräsern hing noch der Tau wie tausend kleine Perlen.

»Guten Morgen«, rief Jonah ihr freudestrahlend zu. Vor sich auf dem Boden hatte er das Frühstück ausgebreitet – Bröt-chen, Nüsse und Beeren.

Amanda rieb sich den Schlaf aus den Augen. Komischerweise fühlte sie sich kein bisschen müde, trotz der Nachtwache. »Guten Morgen.« Ihre Stimmbänder brachten nur ein Flüstern zustande, als sich langsam aus ihrem Deckenlager erhob. Offenbar war sie doch noch nicht so ganz ausgeschlafen. »Das sieht wunderbar aus«, sagte sie zu ihrem Wegegleiter.

Dieser nickte stolz. »Ich war schon fleißig. Habe sogar Freun-de gefunden und Hilfe organisiert.«

»Hilfe?«

Erneut nickte er. »Sobald du fertig bist mit dem Frühstück, brechen wir auf.«

»Hilfe?«, fragte sie noch einmal. »Brauchst DU etwa Hilfe?«

Er hielt ihr eine Schale Wasser hin. Jedenfalls dachte sie, dass es Wasser sei. Als sie davon probierte, begann ihr Rachen zu brennen. Erst jetzt fiel ihr auch der beißende Geruch auf. An-gewidert gab sie die Schale zurück, während sie hustend nach Luft rang. »Willst du mich umbringen? Wo hast du das her?«

Er lachte laut und nahm gelassen selbst einen Schluck des Gebräus.

Auf Amandas Zunge machte sich ein bitterer Geschmack breit. »Ist das etwa Alkohol?«, fragte sie mit vor Abscheu ver-zogenem Gesicht. Jonahs breites Grinsen war ihr Antwort genug.

In ihrem Leben hatte sie genau einmal Alkohol getrunken: Als ihre Mutter an einem schönen Nachmittag Gäste ein-geladen hatte. Damals war sie neugierig gewesen, was denn in den kleinen Gläsern drin war, die die Frauen und Männer so begierig nachfüllen ließen. Ihr war es völlig unverständlich ge-wesen, wieso man denn kein großes Glas nehmen konnte, wenn etwas so gut schmecken sollte. Folglich musste sie davon probieren. Vielleicht waren es ja Zaubergläser. Als sie in eines unbemerkt ihren Apfelsaft goss, stellte sie keinen Unterschied fest. Die unangenehme Überraschung äußerste sich dann hus-tend und brennend, als sie heimlich das Gläschen vom Nach-barn Laurin leer trank.

»Wo hast du den her?«, hakte sie nach.

»Von unseren Freunden«, verkündete er fröhlich. »Nun iss schon. Sie werden grimmig, wenn sie zu lange warten.«

Misstrauisch beäugte sie ihr Mahl. Die Beeren schienen ihr in Ordnung zu sein. Auch der Geruch. Erst vorsichtig, dann gierig stopfte sie sich den Mund voll, um das widerliche Gefühl zu betäuben.

 

*

 

Sie standen vor einem Baum. Zugegeben: Er sah wunder-schön, groß und prächtig aus, trug saftig grünes Laub und schien schon seit vielen Jahren stolz da zu stehen. Aber es war eben nur … ein Baum, den Jonah so interessiert musterte.

»Darf ich fragen, was du suchst?«

Er vollendete seine fünfte Runde um den Baum. »Einen Ein-gang«, murmelte er.

Sollte sie jetzt weiter nachhaken oder ließ sie Jonah einfach machen? Normalerweise wusste er, was er tat … Angetrieben von Neugier jedoch schaute auch sie sich nach etwas … Auf-fälligem um. Sie befanden sich immer noch auf dem Felsenzug, den sie gestern erklommen hatten. Anscheinend gingen noch mehr Leute diesen Pfad entlang, denn hier waren Gesträuch und Ranken achtlos nieder getrampelt worden. Auch zog Moos hier seine grünen Bänder entlang. Links von dem Pfad wuchsen Bäume, Gestrüpp und Sträucher in die Unend-lichkeit, als ob sie einen steinernen Hang hinauf kletterten. Rechtsseits befand sich ein kahler kreisrunder Fleck, der von dem Pfad abzweigte. Auf diesem kleinen Platz, kurz vor dem stark überwucherten Abhang, stand der wunderschöne laub-reiche Baum, den Jonah umrundete und nun umständlich abklopfte. Prüfend lauschte er, ob sich im Innern etwas regte.

»Suchst du nach Holzwürmern?«, rief Amanda belustigt hin-über.

Er verschränkte skeptisch die Arme vor der Brust, als wüsste er nicht recht, was er von einem störrischen Baum halten sollte. »Vielleicht.«

»Dann frag doch den Vogel über dir. Der hat sicher auch Hunger.«

Jonahs Blick ruckte nach oben. »Sitzt der schon die ganze Zeit da?«

Sie zuckte mit den Schultern und interessierte sich eher für die Vogelart. War es eine Taube?

»Hör zu, Vogel. Wir haben es ein bisschen eilig. Kannst du uns bei Grundromiell anmelden? Er wartet auf uns.«

Amanda schlug die Hand vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Sie vertraute Jonah. Sie kannte niemanden, der cleverer und einfallsreicher war, aber das war zu viel. Sollte das jetzt lustig sein oder war ihm damit ernst?

Ehe sie sich’s versah, gurrte die Taube wie zur Bestätigung, drehte eine Runde um den Baum und ward nicht mehr ge-sehen. Wahrscheinlich war sie vor lauter Ratlosigkeit in ihr Nest zurückgekehrt.

»Jetzt hast du sie verärgert«, klagte Amanda.

»Sie wird mir bestimmt helfen.«

Sie warf ihm einen ernsten Ich-mach-mir-Sorgen-um-dich-Blick zu. Doch statt ihr eine erklärende Antwort zu geben, schaute er suchend den Boden ab, ob er nicht irgendetwas übersehen hatte.

»Hast du eigentlich mal kontrolliert, ob wir schon eine Ant-wort von Haeveij haben?«

»Ich schau mal nach.«

Jonah nickte, in seine eigenen Gedanken versunken.

Amanda kramte nach dem Buch. Bevor Haeveij von der Schule gegangen war, hatte er es ihr übermittelt, damit sie weiterhin in Kontakt bleiben konnten. Doch die Seiten, die sie jetzt durchblätterte, waren alle noch immer weiß. Kein Wort.

»Nichts. Er hat noch nichts zurückgeschrieben.«

Plötzlich ertönte ein Knarren aus dem Boden herauf! Dem folgte ein leichtes Zittern des Felsens unter ihren Füßen. Amanda konnte sich gerade noch auf den Beinen halten und packte schnell das Buch wieder ein. Auch Jonah schien überrascht. Was war das? Der Atem stockte ihr, als sie in der Felswand hinter sich ein Loch entdeckte.

Daraus kam eine kleine Gestalt angewatschelt. Sie konnte maximal einen Schritt groß sein, war dafür aber ziemlich stäm-mig. Kein Zweifel: Es war ein Zwerg. Er trug ein grobes Leinenhemd, eine Hose, die ein prächtig verzierter Gürtel schmückte, schlichte geschnürte Lederstiefel und an einem Lederband um seinen Hals hing ein feuerroter Edelstein. In Bart und Haare waren sorgfältig kleine Zöpfe eingeflochten.

»Hallo, Grundromiell«, begrüßte Jonah den Winzling. »Wie versprochen: Hier sind wir. Das ist Amanda, von der ich erzählt habe. Amanda: Das ist Grundromiell – mein Freund. Er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen. Übrigens – das interessiert dich bestimmt – ist er ein begehrter Heiler bei den Zwergen.«

»Hallo«, grüßte auch Amanda ein wenig unsicher. Sie reichte Grundromiell die Hand, was sich hinterher als leichtsinniger Fehler herausstellte. Denn trotz seiner geringen Größe konnte der Zwerg unheimlich kräftig zupacken. Amandas Hand fühlte sich an, als wäre sie von Steinen überrollt worden. Ein leichtes Lächeln huschte über Grundromiells Gesicht. Amanda hatte einmal gehört, dass die Zwerge ein recht gefühlskaltes Volk sein sollten, das nur zwei Arten von Emotionen kannte: ein regloses, neutrales Gesicht bedeutete Freude oder Zustim-mung, alles andere drückte ein Zwerg mit wilden Flüchen aus.

»Freut mich«, brummte Grundromiell durch seinen dichten Bart. Er sprach mit einem leichten Akzent, der das »R« rollte. Ähnlich wie Donnergrollen. Dann drehte er sich um und ging zurück. Jonah krallte sich den Rucksack und folgte ihm. Einen Augenblick überlegte Amanda noch, begriff jedoch, dass sie ihm folgen sollten, hängte die Tasche um und huschte den beiden Männern hinterher, wieder einmal ohne zu wissen, wa-rum sie das tat und wohin das führte.

Aus der Höhle eilte ein Vogel ins Tageslicht. Die Taube? Doch als Amanda sich umdrehte, senkte sich ein schwarzer Schleier über den Eingang. Wie durch ein Seidentuch fiel noch mattes Licht in die Höhle. Aber wieso hängte jemand einen Vorhang vor eine Höhle?

»Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Unscheinbar-Zauber«, antwortete Grundromiell. »Diese Zauber tarnen alle Zwergenwohnstätten, damit wir geschützt sind vor äußeren Einflüssen.«

»Aber wir sind hier«, entgegnete Jonah.

Der Zwerg grollte etwas vor sich her, das sich wie eine Stein-lawine anhörte. Besaßen Zwerge nicht sogar eine eigene Spra-che? So hörte sie sich dann also an. »Du bist ja auch ein ganz besonderer Fall. Auf so einen Steinschädel könnte mancher Zwerg stolz sein.«

Während die beiden Männer diskutierten, bestaunte Amanda die Felswände, an denen unzählige, mit Edelsteinen besetzte Reliefs prangten. Sie zeigten zumeist geometrische Symbole. Vierecke und Dreiecke waren in rätselhafte Konstellationen gesetzt. Amanda erkannte Sterne und Menschen dazwischen. Wie lange war wohl an solch einem Werk gearbeitet worden? Sicher gab es hier noch mehr Gänge, vielleicht ein ganzes Tun-nelsystem. Wie konnte man so etwas vollbringen? Gerade als sie sich fragte, wieso sie das hier unten überhaupt sehen konn-te, erkannte Amanda weiß, rot und gelb leuchtende Punkte über ihnen.

»Leuchtkäfer«, erklärte Grundromiell, als er sich kurz um-drehte und ihren Blick bemerkte. »Sie leben nur untertage und ernähren sich von Fels, genauer gesagt von dem Lumen-Quarz, der darin wächst. Der Quarz sorgt dafür, dass die Tiere leuchten. Der rötliche Stich einiger Exemplare kommt von ihrem dicken Blut, das sich mit dem Leuchten mischt.«

Das Licht der kleinen Insekten wurde vielfach von den ge-schliffenen Steinen in den Wänden zurückgeworfen und tauchte die Tunnelgänge in halbdunklen Schein.

Amanda musste bei diesem Anblick sofort an das Unter-wasserreich denken, in das ihre Freundin sie einmal mitgenom-men hatte. Nur waren es statt Käfern dort Fische, die diese verborgene Welt erleuchteten. Ach ja, wie lange war das her? Aber bald würde sie ihre Freundin Thalita wiedersehen. Dann hatte ausnahmsweise Amanda mehr zu erzählen als das Was-sermädchen. Vorausgesetzt, dass diese Gänge bald ein Ende nahmen.

Grundromiell bewegte sich zielsicher durch das unterirdische Labyrinth. Der Himmel wusste, wie er das anstellte. Die Wän-de sahen alle gleich aus. Fast alle, denn gerade betraten sie einen Gang, an dessen Wänden in regelmäßigen Abständen immer wieder Türen auftauchten. Die fantastischen Verzie-rungen der Wände gingen hier in aufwendige Bordüren über.

Mit schweifendem Blick wäre Amanda beinahe weiter ge-laufen, als ihre Gefährten anhielten.

»Willkommen in meinem Heim«, erklärte der Zwerg, während er eine der dunklen Holztüren aufschloss.

Dahinter kam das wohl putzigste Wohnzimmer zum Vor-schein, das Amanda je gesehen hatte. Schon beim Eintreten mussten sie und Jonah die Köpfe einziehen. In dem Raum konnten die beiden knapp aufrecht stehen, ohne mit der Decke in Konflikt zu geraten. Aus ersichtlichen Gründen bot ihnen Grundromiell gar nicht erst an, auf einem der kniehohen Stühle Platz zu nehmen. Selbst das kuschelige Sofa in der Ecke sah recht zerbrechlich aus. Im Großen und Ganzen war dies aber eine richtig niedliche Wohnung. Das Mobiliar war aus hellem Holz gefertigt und fein ausgearbeitet und verziert worden, ohne dass es überladen wirkte. Bestickte Wand-behänge und mit aufwendigen Schnitzereien versehen Schrän-ke zierten den Raum. Zwerge waren allgemein bekannt für ihre Handwerkskunst. Ihre kleinen Details gaben jedem Stück, sei es aus Metall, Holz, Stein, Ton oder Glas, ein einzigartiges Aussehen. Dabei scheuten sie keine Mühen. Besonders Schmuck stand in dem Ruf, dass er bei den Zwergen mehr Frauenherzen zu eroberte als irgendwo sonst.

Sie standen also in einer echten Zwergenwohnung!

Grundromiell überreichte seinen Gästen zwei kleine Gläser. Auch diese waren, wie es sich für Zwergengastgeber gehörte, mit Pflanzengravuren verziert.

»Ich nehme an, ihr habt seit Tagen nichts Ordentliches mehr getrunken«, mutmaßte Grundromiell. Amanda ahnte schon Schlimmes als er ihnen eine goldgelbe Flüssigkeit in die Gläser einschenkte. »Da lernt ihr gleich einmal eine einheimische Spe-zialität kennen: Zwergenbier.«

Jonah warf einen belustigten Blick in Amandas zweifelndes Gesicht. Zum Glück waren die Gläser klein.

»Egal, was die da oben erzählen. Bier wurde von uns Zwergen erfunden. Also kennen auch nur wir die richtige Rezeptur.« Er schwenkte sein Glas in ihre Richtung. »Wohl bekomm’s.«

Ohne Zögern kippte Jonah das Zeug runter. Amanda hin-gegen hatte Mühe, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Das ist nur ein kleines Glas, sagte sie sich und hielt die Luft an. Das Bier schmeckte scheußlich – leicht würzig, aber viel zu bitter für ihren Geschmack.

Grundromiell lachte, als er ihren abgeneigten Gesichtsaus-druck sah. »Ja, so was Gutes seid ihr nicht gewohnt.« Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Willst du noch was, Jonah?«

»Gern«, sagte er voller Begeisterung. »Das bräuchten wir noch als Wegzehrung.«

Grundromiell gab ein grollendes Lachen von sich. »Leider habe ich nichts anderes im Haus für dich, Amanda. Wasser kann ich dir noch anbieten.«

Amanda schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon gut.« Auf noch mehr Experimente hatte sie keine Lust, obgleich der Ge-schmack auf ihrer Zunge nicht von allein weichen wollte. Ab heute hasste sie Alkohol noch mehr.

Während die beiden Männer die zweite Ration tranken, schweifte Amandas Blick durch den Raum. Sie fühlte sich fehl am Platz. Hatte Jonah sie nur zum Saufen hierher geschleppt? So wie sie ihn kannte, war das sehr gut denkbar. Sie suchte seinen Blick, damit er sie endlich einmal aufklärte, was hier los war. Allerdings war das ein hoffnungsloses Bemühen, da die beiden Männer gerade über Rezepte plauderten. Das war auch so typisch für Zwerge: die sorglose Art. Zwerge liebten gutes Essen und Trinken, vor allem in geselligen Runden. Dabei vergaßen sie schon hin und wieder die Alltagssorgen. Bei ihnen standen Freundschaft und Handwerk an oberster Stelle, doch offenbar gab es noch eine dritte allgemeine Leidenschaft, die in den Lehrbüchern gern ausgelassen wurde: das Bier.

»Deine Freundin beginnt sich zu langweilen«, stellte Grun-dromiell endlich fest. »Nichts für ungut, meine Liebe, aber ohne einen guten Schluck geht bei uns Zwergen nichts. Dann lass dir mal erklären, warum ihr hier seid.« Er warf Jonah einen auffordernden Blick zu.

Dieser trank noch hastig den letzten Tropfen, bevor er seine Ausführungen begann. »Grundromiell hat sich bereit erklärt, uns bei unserer Flucht zu helfen. Ich habe ihn heute Morgen im Wald getroffen, und wir haben uns gleich verstanden…«

»Er wollte mein Frühstück klauen«, brummte der Zwerg in seinen Bart hinein.

»Ja, und er wollte seine Axt nach mir werfen. Aber danach haben wir uns gut verstanden, denn wir sind ins Schwatzen gekommen, über Moral und Regierungen, und haben fest-gestellt, dass wir die gleichen Feinde haben.«

In Amanda arbeitete es. Sollte das bedeuten… »Noctuadar?«

Die anderen beiden nickten.

»Ganz genau«, fuhr Jonah fort. »Dann hab ich Grundromiell unsere Situation geschildert und er meinte, er unterstütze alles, was sich gegen die Regierung richte.«

Gemächlich schenkte Grundromiell Jonah und sich ein wei-teres Glas ein. »Warum? Was haben Sie mit dem Rat zu tun?«, wollte Amanda wissen.

»Sag ruhig Du. Wir sind hier nicht so vornehm.«

»Gut«, sprach Amanda. »Was hast du mit dem Rat zu schaf-fen?« Die Neugier kitzelte sie. Der Rat war also bei noch mehr Leuten unbeliebt. Dabei hatte man ihr in der Schule bei-gebracht, was er alles Tolles bewirkt hatte: Das Zauberervolk hatte er geeint, den großen Wall zum Schutz der Bevölkerung errichtet, den Krieg beendet. Dass aber der Rat – und vor allem der Vorsitzende Noctuadar – nicht so selbstlos war, wie er vorgab, wussten Amanda und Jonah bereits. Hatten sie etwa einen Verbündeten gefunden?

»Der Zaubererrat versucht schon seit Jahren, dem Zwergen-volk die Heimat zu nehmen. Ihr ahnt ja nicht, wie viele von dieser Bagage schon hier waren und uns mit Krieg drohten. Das ist auch der Hauptgrund für den Tarnzauber, der unsere Bergeingänge umgibt. Denn früher konnten wir eigentlich gut mit den Bewohnern des Waldes leben. Doch seit der Rat dort herumschleicht und die Völker des Waldes schikaniert, ziehen sich alle immer mehr zurück.«

Das war doch mal interessant! »Was wollen sie mit eurem Land?«, fragte Amanda.

Grundromiell schüttelte den Kopf. »Es geht ihnen nicht um unser Land. Sie möchten unser uraltes Wissen, damit sie Macht über unsere Heimat erlangen. Wir Zwerge sind nicht die einzigen, die vom Rat bedroht werden. Den anderen Naturvölkern Dahrbens geht es ähnlich: den Feen, den Elfen, dem Wasservolk, um nur einige zu nennen.«

»Das verstehe ich immer noch nicht ganz.« Amanda war ver-wirrt. »Wozu braucht der Rat diese Macht? Er hat doch ohne-hin die Kontrolle in Dahrben.« Wenn man den Geschichten glaubte, besaß er sogar Macht über die Territorien außerhalb.

Grundromiell strich sich nachdenklich über seinen langen Bart. »So scheint es. Aber es geht schon seit Langem das Ge-rücht, dass der Zaubererrat die Macht über ganz Kurza will. Stellt euch vor: Als die Gründermagier Kurza belebten, formte jeder von ihnen einen bestimmten Bereich des Planeten. Die Magie eines jeden einzelnen hauchte dem Planeten Leben ein. Mit Magie kann man praktisch alles machen, alles steuern. Versteht ihr?«

Jonah neigte den Kopf, runzelte aber die Stirn. »Ein bisschen.«

»Der Rat möchte diese Magie beherrschen, auf welcher Kurza aufgebaut ist. Er strebt die Macht über den Planeten und seine Energiequellen an. Dafür versucht der Rat, das Wissen der alten Völker zu erlangen – mit allen Mitteln. Wir Naturvölker wahren das alte Wissen mehr als alle anderen Bewohner Kurzas.

Ich weiß, das klingt sehr fantasievoll für euch. Doch ich bin, wie viele andere Zwerge, Feen und all die wunderbaren Wald-wesen auch, überzeugt, dass diese alten Geheimnisse wahr und äußerst schützenswert sind.«

Jonah nahm wieder einen Schluck. »Das ist nicht schwer zu glauben. Wir haben so etwas auch schon gehört«, gestand er.

»Deshalb bin ich also nicht so gut auf diese Leute zu sprechen. Da draußen in den Städten erzählt das natürlich keiner, weil aus Dahrbens gewöhnlichem Volk niemand weiß, wie gemein der Rat zu uns ist. Vielleicht liegt es daran, dass sie Halbblute sind, oder an der Stadtluft, in der sie leben, dass diese Leute so sorglos sind.«

Amanda war nach wie vor sprachlos. Sie traute Noctuadar auch nicht über den Weg, aber solche Pläne stießen an Gren-zen. Ob diese Pläne irgendetwas mit ihr selbst zu tun hatten? Er hatte sie damals quasi entführt und gezwungen, zaubern zu lernen. Dass da etwas nicht ganz mit rechten Dingen ablief, war ihr schon lange bewusst. Sie beschlich der Verdacht, dass sie bald noch mehr solcher Geschichten hören würde.

»Aber kommen wir zum eigentlichen Zweck eures Besuchs«, beendete der Zwerg dieses Thema. »Wie entgeht ihr euren Verfolgern? Ich kenne einen Weg, da kommt ihr ein ganzes Stück unbemerkt voran. Da wird euch keiner sehen. Keiner von den Zauberern jedenfalls.«

Der plötzliche Themenwechsel riss Amanda abrupt aus ihren Gedanken. Später, so schwor sie sich, musste sie unbedingt mit Jonah über Grundromiells Theorien reden. Als sie zu ihm hinüber sah, nippte er schon wieder an seinem Glas. Hoffent-lich würde das nicht zur Gewohnheit!

»Die Felsenkette, in der wir uns gerade befinden, verläuft Richtung Norden«, begann Grundromiell seine Erklärung. »Ihr findet überall hier unten Gänge, die euch in die gewünschten Richtungen führen. Damit könnt ihr zwei Wochen Fußmarsch eures Weges im Verborgenen wandern, ohne an die Außenwelt gehen zu müssen. Die einzige Schwierigkeit könnte sein, dass manche Zwerge misstrauisch gegenüber Menschen sind. Aber für einen solchen Notfall habe ich schon eine Idee.« Er stellte sein Glas ab und kramte in einer Schublade am Tisch herum. »Ich stehe nämlich in engem Kontakt mit dem Zwergenkönig. Da hat man so seine Privilegien. Wenn ich nur wüsste…«

Er ging suchend durchs Zimmer und öffnete sämtliche Schränke.

»Ich habe vorhin schon danach gesucht, aber anscheinend habe ich diesen Brief doch irgendwie verlegt … Ah – da haben wir es: das Schreiben des Königs samt Ehrenzeichen. Ihr braucht nur diesen Orden zu zeigen, dann wird man euch in Ruhe lassen, denn den bekommen nur auserwählte Vertraute des Königs. Ich bekam ihn, als ich meine jahrelange For-schungsarbeit über das Leben der Felsen am königlichen Hof vorstellen durfte. Das hat übrigens auch etwas mit der Magie der Gründerväter zu tun. Also fragt am besten mich, wenn ihr etwas darüber wissen wollt.«

Er faltete das Pergament in seiner Hand auseinander. Darin eingebettet lag etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine fingerkuppengroße Brosche. Das Ehrenabzeichen war aus Gold gefertigt und trug viele geschwungene Linien. Sie um-ringten einen glänzenden schwarzen Stein, der die Form eines Tieres nachahmte. Amandas Augen gaben bei den winzigen Dimensionen auf. Sollte der Stein eine Ratte darstellen? Als Anspielung auf den Magier Rattus?

»Bist du darauf nicht sehr stolz? Die kannst du uns doch nicht einfach überlassen«, erklärte sie. Dieses Stück war viel zu wertvoll, um es aus der Hand zu geben.

Doch der Zwerg schüttelte den Kopf. »Im Alter sieht man den Wert materieller Dinge mit anderen Augen. Ihr müsst mir nur versprechen, dass ihr meine Geschichte den Leuten da draußen überbringt. Jeder soll davon wissen. Auch die Zauberer und Halbblute sollen endlich aufwachen, dann besteht vielleicht Hoffnung auf eine gute Veränderung in dieser Welt. Vielleicht können dann endlich alle Wesen von Kurzas Magie profitieren.«

Erneut verschlug es Amanda die Sprache. Das war wirklich ein schöner Gedankengang von ihrem kleinen Freund. So sonderbar es auch klingen mochte, Amanda glaubte an seine Geschichte von der Magie des Planeten, denn sie machte ihr einiges deutlich bewusst. »Ich verspreche es.« Sie wollte selbst auch endlich aus ihrer Unwissenheit aufwachen und wissen, was vor ihrer Nase eigentlich ablief.

Behutsam nahm sie das filigrane Abzeichen in die Hand. In der Hoffnung, dass sie nichts abbrechen würde, steckte sie es in ihre Hosentasche, bis sie einen besseren Platz dafür gefun-den hätte.

»Wenn ihr Hilfe bei einer Revolution braucht, bin ich dann übrigens auch gern dabei. Ich kenne da auch noch ein paar andere Leute …«, setzte Grundromiell an.

»Erst einmal müssen wir unsere eigenen Probleme lösen«, unterbrach Jonah. »Aber danach steh ich für alle Schandtaten zur Verfügung.«

Amanda bemerkte, wie er sich bei seinem letzten Satz nach-denklich auf die Lippe biss. Ob er das gleiche dachte wie sie? Er sollte nicht einfach fortgehen, wenn sie zu Hause ankämen. Sie wollte bei ihm sein.

»Gut«, sagte Grundromiell. »Dann wäre das ja geklärt und ich besorge die Geschichtsbücher, in die wir uns dann einschrei-ben.« Er lachte und goss sich nach, ließ das Glas aber stehen und durchsuchte stattdessen seine Schränke. »Jonah sagte, ihr habt nicht mehr viel Proviant. Ich habe hier noch etwas Gutes.«

Oh, bitte kein Bier, flehte Amanda insgeheim, und auch keinen anderen Alkohol.

Zu ihrer Erleichterung zauberte er duftenden Käse aus einem Vorratsschrank hervor. »Echter zwergischer Käse aus der Oberstadt, gleich hier in der Nähe. Einer der wenigen Zwer-genorte, die direkt an der Grenze zur Außenwelt liegen und somit Landwirtschaft möglich machen.«

Der Durchmesser des Käselaibs betrug eine Handlänge. Bei ihren derzeitigen Essgewohnheiten reichte das für die nächste Woche. Aber Jonah? Der konnte sich von Zwergenbier er-nähren.

Grundromiell wickelte ihn in altes Pergament ein und über-reichte ihn Jonah.

»Dankeschön.«

»Warte, dir gebe ich noch das hier mit.« Aus selbigem Vor-ratsschrank holte er eine kleine dunkle Flasche heraus. »Selbst-gebrannter Schnaps. Hilft gegen alle Krankheiten und Durst. Damit solltet ihr den Weg überstehen.«

Die Männer lachten, Amanda verdrehte die Augen.

»Gut, dann machen wir uns mal auf den Weg. Ich begleite euch in die Stadt.« Der Zwerg tauchte an ihnen vorbei zur Haustür. Amanda zog den Kopf ein, als sie durch die Tür ging. Wenn hier alles so klein ausgerichtet war, würde sie bald Rückenschmerzen bekommen.