Amanda - Zauberhafte Welten

Amanda führt mit ihrer Mutter ein ruhiges, bürgerliches Leben. Doch das ändert sich schlagartig. Als ihre Mutter stirbt, soll Amanda zu ihrem Onkel reisen, von dem sie bisher nicht einmal wusste, dass er existiert. Ihre Reise führt Amanda in eine fremde Welt voll Zauberei und fremdartiger Wesen. Was Anfangs noch fantastisch wirkt, entpuppt sich bald als große Gefahr und ein Labyrinth aus Geheimnissen.

Leseprobe

 

1. Kapitel – Erinnerungen und neue Sorgen

 

Alles tat weh. Weder stehen noch sitzen konnte sie ohne Schmerzen. Der Gedanke, noch weitere Tage in diesem Sattel zu verbringen, ließ Amanda innerlich aufstöhnen.

Schon seit Tagen ritt sie scheinbar sinnlos durch die Gegend, war durch zig Dörfer gekommen, und zu allem Überfluss wurde ihr Geld langsam knapp. So hing Amanda seit Tagen immer wieder den gleichen trüben Gedanken nach. Ihre Mutter spielte dabei die größte Rolle.

Erst zwei Wochen war es her … Amanda hatte stundenlang an ihrem Bett gesessen.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hasste es, ihre Gefühle nicht im Griff zu haben. Sie fühlte sich so klein und schwach. Nie hätte sie gedacht, dass sie jemals so schutzlos sein würde.

Es dämmerte langsam. In einiger Entfernung erkannte Amanda einen Waldrand. So suchte sie sich eine Baumgruppe am Wegesrand, wo sie etwas geschützter liegen konnte als auf weitem Felde.

Aus der Satteltasche von Tori, ihrem Pferd und momentan einzigen Vertrauten, holte Amanda eine warme Decke hervor. Sie gab ihr eine Möhre, die sie gestern in einem Dorf gekauft hatte. Amanda selbst trank einen Schluck Wasser und aß ein Stück Brot dazu. Mehr konnte sie sich momentan nicht leisten. Danach kuschelte sie sich in ihre Decke, um wenigstens etwas bequemer zu liegen. Sie vermisste ihr weiches Bett. Da war sie auch wieder beim vertrauten Thema angekommen: zu Hause.

Die Worte ihrer Mutter gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Erstaunlich genau erinnerte sie sich an jedes Detail. Amanda war es nie in den Sinn gekommen, nach ihrer Familie zu fragen. Selbst als kleines Mädchen hatte sie nicht geahnt, dass es noch jemand anderen als ihre Mutter geben könnte, eine andere Person, die wichtig sein könnte in ihrem Leben. Sie war einfach glücklich gewesen und zufrieden bisher.

Bis zu jenem Tag.

Seitdem wurde Amandas Welt immer verzerrter. Nichts passte mehr dahin, wo es hin sollte. Die Gedanken wollten nicht ruhen.

Mutters letzte Worte.

Der Brief.

Er lag in ihrer Tasche sicher, und ungeöffnet. Nur von außen hatte Amanda in betrachtet. An Amatan, stand darauf. Amatan. Das musste er sein. Der Name klang sehr östlich. Ebenso wie der ihrer Mutter, Loren. Die beiden waren zusammen im Osten Kurzas – in Dahrben – aufgewachsen, wie sie jetzt wusste.

Sie konnte das alles noch immer nicht fassen. Wieso hatte sie nie von ihm erzählt? Und dieser Mann sollte ihre Zukunft bestimmen?

Wieder spürte sie, wie etwas Feuchtes über ihre Wange rann. Sie versuchte, sich zu beherrschen. Sie war nun eine Waise, für sich selbst verantwortlich. Allein. Vorerst, jedenfalls.

Sie tastete nach dem Dolch an ihrer Seite. Der einzige Gegenstand, der ihr Schutz bieten konnte. Doch zu ihrem Leidwesen wusste sie kaum damit umzugehen. Sie hatte ihn nur eingesteckt, damit sie nicht ganz so wehrlos aussah.

Langsam fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

 

Am nächsten Morgen wachte Amanda in aller Frühe wie so oft in der Hoffnung auf, dass alles, was sie in der letzten Zeit erlebt hatte, nur ein Albtraum wäre, doch jeden Morgen wurde sie enttäuscht. Sie gab ihrem Pferd eine Möhre und aß ein Stück Brot. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sich der Proviantbeutel viel zu schnell leerte, da sie praktisch ständig Hunger verspürte. Sie band ihre rote Mähne wieder zu einem ordentlichen Zopf nach hinten, wie die Mutter es ihr beigebracht hatte. Sie seufzte schwermütig bei dem Gedanken. Danach packte sie ihr Nachtlager zusammen und schwang sich in den Sattel. Die Sonne schien, dennoch war es angenehm kühl. Spätestens gegen Mittag würde sich das ändern. Um nicht trübsinnigen Gedanken nachzuhängen, konzentrierte sie sich auf die Natur um sich herum. Bunte Blumen und Bäume von saftigem Grün säumten ihren Weg. Vögel zwitscherten. Im Grunde war es ein herrlicher Tag, genau wie die anderen davor auch. Sie reihten sich zu einer scheinbar endlosen Kette ohne Aussicht auf ein Ziel.

Obwohl sie in letzter Zeit viel Schlaf bekam, wäre sie dank des sanften Trotts ihrer Stute beinahe eingenickt. Einmal war es ihr tatsächlich passiert, und sie war aus dem Sattel gefallen. Andere Male war sie kurz davor gewesen. Sie verfluchte diese Reise. Sie war so langweilig und doch gleichzeitig anstrengend. Das tagelange Schweigen zerrte an ihren Nerven. Nur einmal hatte ein Puppenspieler ihr bis zur nächsten Stadt Gesellschaft geleistet. Als sie dort ankamen, war Amanda jedoch froh gewesen, den überdrehten und erzählfreudigen Verrückten endlich wieder loszuhaben.

Am Horizont vor ihr tauchte eine lange Reihe von Häusern auf. Die erste Stadt seit vier Tagen. Sie empfand es als glückliche Fügung, denn sie musste allerhand Nahrungsmittel besorgen. Außerdem waren dort endlich wieder Menschen, die sie nach dem richtigen Weg fragen konnte. Falls dort richtige Menschen lebten. In Dahrben war das sehr selten der Fall.

Schon bald konnte Amanda die Marktschreier hören. Dieses typische Getümmel ließ selbst den trübseligsten Menschen sofort ein Grinsen aufsetzen, wenn auch nur, um über die Gaukler zu lachen.

Als sie von Tori abstieg und durch das Stadttor trat, wurde ihr Verdacht auf nichtmenschliche Wesenheiten bestätigt. Überall tummelten sich Kobolde, Elfenmenschen und andere Zauberwesen.

Auf dem Marktplatz entdeckte sie einen Obst- und Gemüsehändler. Dort kaufte sie sich und Tori erst einmal etwas zu essen. Einen Bund Möhren, ein paar Äpfel, und im Bäckerladen kaufte sie ein kleines Brot. Das musste für den Rest ihres Weges reichen.

Es war noch etwa ein ganzer Tagesritt bis nach Takar, schätzte sie. Langsam stieg Aufregung in ihr auf. Bald würde sie am Ziel sein.

Zur Sicherheit suchte sie nach jemandem, der so aussah, als ob er sich hier auskannte. Bis sie vor der Haustür eines Backsteinhauses zwei Frauen entdeckte, die ihr sympathisch erschienen. Diese bemerkten Amanda, unterbrachen ihr Gespräch und drehten sich zu der Fremden um.

Die beiden Frauen waren zu Amandas Erstaunen etwa einen Kopf kleiner als sie selbst und wirkten eher stämmig im Gegensatz zu den Menschen, die Amanda kannte.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, ob ich auf dem richtigen Weg nach Takar bin?«

Die Frauen blickten sie erstaunt an. Beide hatten rundliche, recht pausbäckige Gesichter. Amanda vermutete, dass es sich bei ihnen um Menschen mit Zwergenabstammung handelte. Eine von ihnen sprach mit rauer, tiefer Stimme, die überhaupt nicht zu einer Frau passte.

»Ja, du musst jetzt in die rechte Straße, die vom Marktplatz führt, einbiegen und dann immer auf dieser Straße bleiben.«

»Vielen Dank.« Amanda nickte freundlich und wollte schon gehen, als eine der beiden rief: »Ach, Mädchen …«

Amanda drehte sich noch einmal um.

Die Frauen sahen sie mit großen warnenden Augen an. Diesmal sprach die andere Frau. Ihre Stimme klang höher als die ihrer Freundin. »Ich würde bis morgen warten. Im Wald lauern die Werwölfe auf jemanden wie dich.«

Werwölfe? War das ein Scherz? Sie hatte hier ja schon einiges erlebt, aber Werwölfe? So besorgt wie die beiden Frauen schauten, machten sie keine Witze darüber. Amanda überschlug in Gedanken ihr verbliebenes Geld. Es dürfte noch genügen. »Kann ich hier in der Stadt irgendwo übernachten?« Die Aussicht auf ein Dach für die Nacht riet ihr ebenso zum Bleiben wie die Angst.

»Natürlich. Dort drüben.« Die mit der rauen Stimme zeigte auf ein Gebäude, auf der anderen Seite des Marktplatzes. »Siehst du die Pension? Sie ist wirklich hübsch. Der Gastwirt hat sogar einen Stall für dein Pferd. Über den Preis lässt er bestimmt mit sich verhandeln.«

»Dankeschön. Ich werde es versuchen.« Obwohl Feilschen und Kommunikation nicht zu Amandas Stärken zählten.

»Nichts zu danken. Pass auf dich auf, Mädchen.«

»Mach ich.« Im Moment aber freute sie sich auf ein richtiges Bett und eine warme Bleibe. Die Pension am Markt sah tatsächlich sehr einladend aus. Ein Zimmer war sogar noch frei für sie. Der Gastwirt überreichte ihr den Schlüssel und kümmerte sich um ihr Pferd, während Amanda sehnsüchtig ins Bett plumpste.

 

 

 

2. Kapitel – Ein neuer Anfang

 

Es war früher Morgen, als die beiden Gefährten sich von der kleinen Pension verabschieden wollten.

»Wohin bist du eigentlich unterwegs, wenn ich fragen darf?« Der Gastwirt stand neben ihr am Pferdestall und half Amanda beim Satteln ihres Pferdes.

»Ich möchte nach Takar«, antwortete Amanda und rückte das Zaumzeug zurecht.

»So, so. Bis dahin sind es noch ein paar Stunden. Da könnt ihr beide das ganz gut gebrauchen.« Lächelnd holte der Mann ein Stoffbündel unter seinem Mantel hervor. »Der Proviant ist im Preis inbegriffen, versteht sich.«

»Vielen Dank.« Amanda schloss die letzte Schnalle und packte das Bündel in Toris Satteltaschen. »Ich habe jetzt schon Hunger.«

»Gerne. Kommt gut an und lasst die Werwölfe in Ruhe.«

»Die sind doch nicht etwa auch am Tag auf der Lauer?«, fragte Amanda besorgt.

Der Gastwirt lachte und winkte ab. »Ich mach nur Spaß. Es ist nur ein kurzes Waldstück, das ihr durchqueren müsst. Am Tag ist es völlig ungefährlich. Dahinter liegen die Felder der Bauern und dann seid ihr schon fast in Takar.«

Das klang nach baldiger Erholung. Erleichtert seufzte Amanda.

»Gute Reise euch beiden.«

Amanda schnappte Toris Zügel und machte sich auf den Weg. »Auf Wiedersehen.«

Nur noch wenige Stunden trennten sie von ihrem Ziel.

 

Es war später Nachmittag, als sie ein kleines Dorf erreichten.

Dieses lag, von grünen Hügeln und gelben Feldern umgeben, an einem Wald. Die Luft roch herrlich frisch und immer noch blumig. An diese Umgebung könnte sie sich gewöhnen. Eine Idylle, wie man sie nur noch selten in der Nähe von Siedlungen fand.

Das Leben im Dorf aber war um einiges hektischer als die friedliche Landschaft außen herum. Auf den Straßen herrschte für die Abendzeit ziemlich viel Gedränge. Es wimmelte nur so von Zauberwesen. So viele merkwürdige Gestalten hatte Amanda noch nie auf einem Haufen gesehen. Nicht einmal in den anderen dahrbischen Städten, durch die sie gewandert war.

In ihrem Heimatterritorium hielt man Zauberei für tot. Man dachte, sie sei ausgestorben. Vor vielen Jahrhunderten schon waren die letzten Zauberer begraben worden. Amanda hatte insgeheim immer an die Geschichten ihrer Mutter geglaubt, die sie ihr vorm Schlafengehen erzählt hatte. Von der Zauberei und Dingen, die außerhalb Rhebendens immer noch irgendwo möglich sein sollten. Einmal hatte Mutter behauptet, dass sie das alles selbst gesehen hätte. Damals hatte Amanda das als Scherz abgetan. In Wahrheit hatte sie aber oft darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn die Geschichten wirklich wären, nur um sie später als alberne Kinderwünsche abzutun. So war sie erstaunt und erschrocken zugleich gewesen, als sie all die kuriosen Gestalten zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen hatte.

Als sie vor einigen Tagen die Grenze von Kobenden nach Dahrben überschritten hatte, war einiges an Zeit vergangen, bis sie den Mund vor Staunen wieder hatte schließen können. All die Geschichten bekamen eine ganz andere Aura, wenn sie Wirklichkeit wurden. Das war beängstigend und wundervoll zugleich.

Ihr fiel eine Geschichte ein, die sie als Kind oft gehört hatte.

Es war eigentlich eine Gruselgeschichte, deshalb durfte Mutter sie nie vor dem Schlafengehen erzählen. Darin ging es um den Planeten Matar. Es hieß, dass er dem Untergang geweiht sei, weil die Zauberei dort keine Regeln kannte. Es herrschte Chaos.

Die turbulente Straße, auf der sie ging, erinnerte sie wieder an diese Geschichte. Schon in anderen Städten Dahrbens war ihr das aufgefallen, und es machte ihr Angst. Wozu waren Zauberer in der Lage?

Gerade befand sie sich Schulter an Schulter mit ihnen. Es war mühevoll, sich mit einem Pferd durch die Massen zu kämpfen. Manche Leute starrten sie kritisch an. Sie merkten wohl, dass sie keine Einheimische war. Vielleicht starrten sie sie auch an, weil sie wie ein ganz normaler Mensch aussah. Die meisten Gestalten hier waren unreine Zauberwesen, also Wesen, die man auch Halbmenschen nennen konnte oder Halbtiere. Reine Zauberwesen waren, soweit Amanda wusste, vollkommene Rassen. Was immer das bedeutete. Kobolde, Elfen, Faune zählten dazu. Aber Amanda hatte noch kaum solche gesehen.

In Gedanken dankte sie ihrer Mutter, dass sie nie nachgelassen hatte, so viele Geschichten darüber zu erzählen. Möglicherweise hatte sie gewusst, dass Amanda einmal hierher kommen würde. Möglicherweise hatte sie es genauso gewollt.

»Autsch!« Eine pelzige, kleine Katze – auf zwei Beinen! – sprang zur Seite, als Amanda ihr auf den grau-weiß getigerten Schwanz trat.

»Entschuldigung«, rief Amanda höflich, aber das Wesen war schon in der Menge verschwunden.

Wenn sie sich nicht irrte, war sie jetzt in Takar angekommen. Ihr Puls stieg. So kurz vor dem Ziel. Was würde sie erwarten? Eine ganz andere Frage kam ihr nun in den Sinn, als sie die Leute hier beobachtete. Was war der mysteriöse Mann eigentlich? Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht.

Autsch! Schon wieder war da irgendwo ein Fellknäuel gewesen an ihrem Arm und ein Huf auf ihrem Fuß.

»Verzeihung, junge Dame«, murmelte ein Faun und ging weiter.

Ab und an gingen ein paar Gassen seitlich von der Hauptstraße ab, auf der Amanda lief. Sie sah einen Bäckerladen, ein Arzthaus und ein Gasthaus, bis sie endlich das Ende der dicht bevölkerten Straße erreichte. Sie ging jetzt auf einer etwas schmaleren Straße an ein paar einzelnen Häusern an einem kleinen Hügel vorbei, wo es ruhiger war. Dann endlich fanden auch die Häuserreihen des Dorfes ihr Ende.

Auf einer Wiese entdeckte Amanda ein paar spielende Kinder. Fast genau gegenüber stand ein kleines Haus auf dem Hügel.

Das könnte das Haus sein, von dem Mutter gesprochen hat, schoss es ihr durch den Kopf, sie war sich jedoch nicht sicher. Bevor sie sich also vor einem völlig Fremden blamierte, sollte sie auf Nummer Sicher gehen.

»Verzeihung?« Sie tippte einem rothaarigen Jungen auf die Schulter, der am Spielfeldrand stand. »Weißt du, wer dort oben wohnt?«, fragte sie ihn und zeigte auf das Haus.

Der Junge machte eine Geste zu seinen Mitspielern, die dies allerdings kaum wahrnahmen. »Kurze Auszeit Leute«, rief er. Dann schaute er Amanda an. »Na klar, dort oben  wohnt der alte Amatan. Willst du zu ihm? Sei bloß vorsichtig. Er ist ein griesgrämiger alter Mann, wenn du mich fragst.«

Sie versuchte sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Wirklich? Trotzdem danke«, erwiderte Amanda.

»Kein Problem«, antwortete der Junge und wandte sich wieder seinem Spiel zu.

»Griesgrämiger alter Mann?«, murmelte Amanda, »das kann ja heiter werden

Sie ging die schmale Treppe hinauf, die zu dem Haus führte. Dies erwies sich als ein wenig mühselig. Es mussten um die hundert Stufen sein. Zusätzlich musste Amanda noch auf Tori einreden, die neben der Treppe den Hügel hinauf trottete und nach jedem Schritt stehen blieb, um das frische Gras zu genießen.

Ihre Nervosität war nicht zu beschreiben.

Als sie das Haus erreichte, haderte sie mit sich selbst, ob sie denn anklopfen sollte. Was würde sie hinter dieser Tür erwarten? Sei kein Feigling! So schlimm wird es schon nicht werden. Zögernd klopfte sie schließlich doch an die Tür. Jetzt war es also soweit. Es gab kein Zurück. Wenige Sekunden verstrichen, bis geöffnet wurde.

Vor ihr stand ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er hatte schwarzgraues, schulterlanges Haar und eine Augenklappe auf dem rechten Auge. Seine Kleider waren ebenfalls schwarz, und er stützte sich auf einen Krückstock. Insgesamt machte er einen recht Furcht einflößenden Eindruck. In etwa, wie diese alten Zauberer in Märchenbüchern, die ein dunkles Geheimnis mit sich trugen.

Misstrauisch sah er das schmächtige und eingeschüchterte Mädchen vor sich an.

»Ja? Wer bist du und was willst du?«

»E…entschuldigung …«, Amanda brachte vor Schreck kaum ein Wort heraus. Was wollte sie sagen? »Sind Sie Amatan?«

Der gruslige Mann nickte.

Das war er also. Irgendwie hatte er überhaupt keine Ähnlichkeit mit Mutter. Amanda war ein wenig verängstigt von dieser Erscheinung. »Ich bin Amanda …«, sie schnappte nach Luft, »Ihre Nichte.

Noch immer sah er sie misstrauisch an und musterte sie von oben bis unten. Nach einer Weile sagte er schließlich: »Komm rein!«

Amanda band Toris Zügel an einen Zaunpfahl neben der Haustür fest. Als sie eintrat, stand sie in einem Raum, der wahrscheinlich als Küche und Wohnzimmer gleichzeitig diente. Darin standen sowohl Sofa als auch Spüle.

»Setz dich!« Der alte Mann bot ihr einen Stuhl am Esstisch an, der sich in der Mitte des Raumes befand. Er selbst setzte sich ihr gegenüber hin.

»Danke.« Amanda setzte sich.

»Erzähl mir erst einmal, wer du eigentlich bist«, forderte Amatan sie auf. Er schien ihr nicht zu glauben, dass sie seine Nichte war. Aber das konnte sie ihm kaum übel nehmen. Ihr fiel es ebenso schwer, alles zu begreifen.

»Also«, begann Amanda, „ich bin Amanda, die Tochter von Loren, Ihrer Schwester …«

Er sah sie prüfend an. Deshalb erzählte Amanda gleich weiter. »Meine Mutter ist vor zwei Wochen und drei Tagen gestorben. Sie sagte, ich solle hierher kommen, damit ich jemanden hätte, der sich um mich kümmert.« Amanda machte eine Pause, um die Tränen, die in ihr aufstiegen, zu bekämpfen. Diese Gedanken auszusprechen, war eine Befreiung für sie. Als ob eine steinerne Mauer um ihr Herz gelegen hätte, die nun zerbröselte und alle unterdrückten Empfindungen freiließ. »Meinen Vater kenne ich nicht. Er ist vor meiner Geburt spurlos verschwunden. Mutter wollte nie etwas von ihm erzählen. Du bist die einzige Familie, die mir bleibt. Deshalb soll ich dich kennen lernen.«

Amatan musterte sie eingehend. Er schien nicht zu wissen, was er von ihr halten sollte – ob er ihr glauben sollte.

»Sie ist friedlich eingeschlafen.« So friedlich, wie es ging mit ihrer seltenen Krankheit. Amanda überreichte ihm den Brief. »Den hat sie mir mitgegeben.«

Er las ihn ohne mit der Wimper zu zucken.

Hat dieser Mann Gefühle, fragte sich Amanda. Seit ihrer Ankunft hatte sich seine Miene nicht verändert. Sie wusste zwar nicht, was in dem Brief stand, aber es war gewiss nichts Gutes. Sollte er nicht ein wenig traurig sein? Immerhin war seine Schwester gestorben.

Er legte den Brief beiseite. »Also gut«, sagte er, wieder im selben Ton wie zuvor. »Du kannst erst mal hier wohnen. Ich zeige dir ein Zimmer.« Dann stand er auf und ging zu einer Treppe an der hinteren Wand des großen Raumes.

Der Ausdruck erst mal verunsicherte sie ein wenig. Sie hatte nicht vor, in absehbarer Zeit noch einmal umzuziehen. Verhalten folgte sie ihm.

Die Stufen der Holztreppe waren schon ziemlich abgenutzt, schienen daher sehr alt zu sein. Ähnlich wie der Rest des Hauses, dessen Einrichtung einen äußerst altmodischen Eindruck vermittelte.

Am oberen Treppenende befand sich ein Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Amatan öffnete die erste auf der linken Seite. »Hier kannst du schlafen«, erklärte er und ging die Treppe wieder hinunter. Er ließ sie einfach stehen. Keine Frage, wie es ihr ging, kein Interesse an seiner Schwester. Amanda war geschockt über diese Herzlosigkeit. Er hatte sie einfach vor dem Zimmer stehen lassen. War das zu fassen? Aber gut, sie musste ihm Zeit geben. Immerhin war auch für ihn alles neu.

Sie betrat zögerlich ihr Zimmer. Wie seltsam sich das anfühlte: Ein neues zu Hause, ein neues Zimmer zu haben, ein neues Leben zu beginnen, das schon schrecklich anfing.

Zu ihrer Rechten stand ein Bett mit einem Hocker daneben, der wohl als Nachttisch dienen sollte, gegenüber befand sich ein Schrank mit einem Spiegel. Daneben stand ein kleiner Tisch samt Stuhl vor einem Fenster, welches einen Blick auf das Dorf offenbarte. Man konnte es von hier oben wunderbar überblicken.

Unten hörte sie ihren Onkel nach ihr rufen. Eilig rannte sie die Treppen hinunter.

»Ich muss für zwei Stunden weg. Du kannst alles erkunden, bis auf Räume hinter den letzten beiden Türen, an der linken Wand, oben.«

Sie nickte brav. Irgendwie war sie froh, dass ihr Onkel sie erst einmal verließ.

»Ich warne dich: Das ist mein Ernst.«

Das hätte er nicht unbedingt dazusagen müssen. »Habe schon verstanden«, gab sie höflich zurück. Komischer alter Mann, der Junge hatte recht gehabt.

 

Schnell hatte Amanda das Zimmer fertig eingeräumt, viele Sachen besaß sie nicht. Jetzt musste sie sich zuerst um Tori kümmern. Ob ihr Onkel wohl einen Stall besaß?

Sie ging hinaus auf den Flur. Gerade wollte sie die Treppen hinunter steigen, als sie ein Rumpeln hinter der letzten Tür wahrnahm. Einer von ebendiesen Türen! Sollte sie nachsehen, was dort war?

Nein, entschied sie. Sie wollte das Vertrauen ihres Onkels nicht gleich am ersten Tag missbrauchen.

Sie ging also nach draußen und band Tori los. Draußen begann es bereits zu dämmern, doch die Spieler unten auf der Wiese waren immer noch nicht müde. Amanda ging um das Haus herum. Auf der hinteren Seite, fand sie tatsächlich eine kleine Scheune. Darin standen ein paar Gartengeräte und tatsächlich diente sie auch als Pferdestall.

In einer Box stand ein großer Fuchs mit einer Blesse, vermutlich Amatans Pferd. Er sah sehr trainiert aus. Amatan ritt wahrscheinlich oft aus. Daneben waren zwei weitere Boxen, doch diese waren leer. Zwar war der Stall nicht sehr groß, aber für die Pferde reichte er allemal.

Amanda führte Tori in eine Box hinein. Sie gab ihr Heu, das

aufgehäuft neben Möhren und Gartengeräten lagerte, und schloss die Tür hinter sich.

Zeit, alles zu erkunden, dachte sie. Ob das in Ordnung geht? Amatan hatte es zwar erlaubt, doch Amanda hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen dabei. War das nicht ein bisschen dreist, gleich am ersten Tag? Andererseits… Was sollte sie sonst tun?

So streifte sie eine Weile durchs Haus. Sie entdeckte einige Gästezimmer im oberen Flur. Hinter die letzten zwei Türen sah sie natürlich nicht, auch wenn sie noch so neugierig war. Da sie das Schlafzimmer ihres Onkels noch nicht gesehen hatte, vermutete sie es hinter einer dieser Türen. Hinter der anderen lag vielleicht ein Studierzimmer oder etwas Ähnliches. Egal, später würde er ihr das hoffentlich einmal erklären.

In der unteren Etage befand sich lediglich ein großer Raum – die Wohnküche. Dafür war es hier im Großen und Ganzen sehr gemütlich. Ein Kamin stand da, ein Bücherregal, Schränke mit Geschirr – alles was man täglich brauchte, fand sie hier. Amanda meinte, sich hier sicher gut einleben zu können, wäre da nicht ihr missgelaunter Onkel. Aber Gefühle änderten sich bekanntlich.

Bei ihrem Onkel dauerte das allerdings länger, erkannte sie, als er nach einer ganzen Weile wieder nach Hause zurückkehrte. Dieselbe Miene, die er schon vor ein paar Stunden gehabt hatte. Er machte Amanda immer noch ein bisschen Angst.

»Wenn du schon einmal hier bist, kannst du mir beim Tischdecken helfen«, sagte ihr Onkel, wobei er sich aber hörbar bemühte, freundlich zu klingen.

Vielleicht konnte er seine Gefühle nicht so offen zeigen, dachte Amanda. Sie selbst konnte sie nicht unter Kontrolle halten. Also ergänzten sie sich wunderbar.

Noch bevor Amanda fragen konnte, deutete ihr Onkel auf einen Schrank oberhalb der Spüle. »Das Geschirr ist dort oben«, sagte er, während er schon in einem Besteckkasten kramte.

Wortlos machte auch Amanda sich an die Arbeit.

Als sie schließlich beim Abendessen saßen, wies ihr Onkel sie auf seine Hausregeln hin. Kein Lärm, wenn er arbeiten musste, war der Punkt, den er am häufigsten betonte. Außerdem wollte er wissen, ob sie eine Schule besucht hatte.

»Meine Mutter hat mir Lesen, Rechnen und Schreiben beigebracht«, erklärte Amanda, der es unangenehm war so dumm dazustehen. Ihre Mutter hatte immer gemeint, dass man in der Schule nichts Vernünftiges mehr lernen würde. Mutters Unterricht war sehr schön gewesen. Besser hätte sie in keiner Schule lernen können, davon war Amanda fest überzeugt und biss beherzt in ihr Käse-Wurst-Brot mit einer dicken Schicht Butter. Herrlich, endlich mal wieder etwas in den Magen zu bekommen.

»Na ja, dann ist es jetzt auch zu spät dafür«, erwiderte ihr Onkel, zu ihrer Überraschung. »Wie alt bist du?«

»Fünfzehn«, nuschelte sie, als sie gerade einen Bissen Brot herunterschlucken wollte.

»In deinem Alter haben viele Kinder eine Arbeit, neben der Schule. Ich verdiene nicht genug, um zwei Personen zu ernähren, deshalb solltest du dir am besten auch eine Arbeit suchen.«

Insgeheim hatte Amanda so etwas schon erwartet. Zu Hause hatte sie in Mutters Bäckerladen gearbeitet. Den ganzen Tag hatte sie dort zugebracht, da sie sonst keine Verpflichtungen gehabt hatte. Sie freute sich schon darauf, endlich wieder etwas Nützliches tun zu können. Vielleicht konnte sie auf diesem Weg leichter alles hinter sich lassen.

»Warum hast du uns nie besucht?«, fragte sie unvermittelt.

»Keine Zeit«, erwiderte ihr Onkel knapp. »Viel Arbeit.«

Mehr sagte er an diesem Abend nicht. Amanda schwirrten

viele Fragen durch den Kopf, wie: Warum hat Mutter nie etwas von dir erzählt? Warum hattet ihr keinen Kontakt mehr? Aber sie konnte sie einfach nicht stellen.

Nach dem Abendessen räumte Amanda freiwillig den Tisch ab und ging dann sofort ins Bett. Es war ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich ein anderes Zuhause zu haben. Sie beschloss morgen ein bisschen durch das Dorf zu streifen und dabei nach einer Arbeit zu suchen.

Sie fragte sich, was jetzt wohl in ihrer alten Heimat los war. Der Abschied war ihr nicht sehr schwer gefallen. Amanda hatte sich nie mit jemandem sehr gut anfreunden können. Die meisten Kinder – besonders die älteren Jungen – hatten es nie lassen können, sie zu hänseln und sich über ihre fehlende Bildung lustig zu machen. Da Amanda den ganzen nutzlosen Kram in der Schule nie hatte lernen müssen, wusste sie eben nichts von diesen alten Wissenschaftlern und ihren grauen Theorien, von der Entstehung des Planeten oder von dem Verdauungssystem eines Hundes. Wozu auch sollte das gut sein? Anfangs hatten Rüpel sie herum geschubst, weil es ihnen Spaß bereitete, wehrlose Mädchen zu ärgern. Doch dann hatte Amanda gelernt, sich zu verteidigen. Sie lernte, zuzuschlagen, wenn es nötig war, und das kleine Mädchen in ihrem Inneren zu verstecken. Danach legten sie sich nur noch selten mit ihr an. Die meiste Zeit grinsten sie spöttisch, was Amanda aber gespielt hochnäsig überging.

Aber richtig einsam war Amanda deshalb trotzdem nie gewesen. Ihre Mutter fand ständig Arbeit für sie. Manchmal passte sie auch auf Nachbarskinder auf.

Während sie so in Erinnerungen schwebte, schlief sie langsam ein.

Sie träumte von zu Hause, ihrer Mutter, wie sie an einem normalen Tag zusammensaßen. Sie saßen einfach nur da, sprachen nicht, aber Amanda fühlte sich ihr so nah, als könnte sie sie anfassen. Doch als sie die Hände ausstreckte, löste ihre Mutter sich in eine Rauchwolke auf. Dafür tauchten in der darauf folgenden Dunkelheit zwei goldglänzende Punkte auf. Ein Gefühl von Wärme umfing Amanda. Sie suchte nach dem Quell dieser Feueraugen, doch wie in anderen Nächten auch, wachte sie auf, noch bevor sie ihn fand.

Da waren sie wieder gewesen: Jene Augen, die sie seit ihrer Kindheit verfolgten und die sie in den langen Nächten ihrer Reise vermisst hatte. Sie starrten Amanda immer nur an. Das empfand sie keineswegs als beunruhigend. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Sie vermittelten ihr ein Gefühl von Schutz. Sie war nicht allein. Diese Augen begleiteten sie in der tiefsten Finsternis ihrer Träume und verscheuchten die bösen Schatten.